Zwingende Dinge

Wer schon mal umgezogen ist, und da gibt es ja kaum jemanden, der diese Erfahrung nicht teilt, weiß wahrscheinlich um dieses Phänomen. Solange die Dinge in Schränken und Kisten stecken, hübsch anzusehen als Pretiosen in Vitrinen, als Bücher in Regalen oder als Papiere in Ordnern, solange sind sie klein und ruhig. Nur wehe, man tastet sie an, muß sie rauslassen, weil sie verpackt und verschickt werden sollen. Dann blähen sie sich auf, verdoppeln und verdreifachen ihr Volumen und vervielfachen ihre Zahl.

Mir kommt das so vor, als wolle man durchs Wattenmeer zu einer Hallig wandern. Marschiert man los, so denkt man: ein kurzer Marsch wird das, da ist ja die Hallig schon zum Greifen nah. Nach einer halben Stunde wirkt sie schon ferner, und so geht es weiter. Im Gehen wird man gezwungen, die Realität der Entfernung zu erfahren.

Und so ist es auch mit den Dingen. Sie zwingen zur ihrer Anerkennung, wenn man sie rausholt von den Stellen, an denen sie lange Zeit harmlos geschlummert und uns die Illusion einer gemütlichen Wohnung gegeben haben. Dass sie da sind, dass sie irgendwie ein Eigenleben haben und sich behaupten wollen. Vor allem, bevor sie in Umzugskartons verfrachtet werden, trumpfen sie nochmal auf. Man kann versucht sein, einfach einen Container zu bestellen und immer nur rein damit.

Wenn da nicht die Gefühle wären, durch die sie uns zusätzlich zwingen, Tiefenschichten, die uns erinnern an diese und jene Lebensperiode oder konkrete Situation. An lange Phasen oder sekundenkurze Erlebnisblitze. Deshalb müssen sie am Ende doch auch wieder mit, wenn man nicht allzu viel Trauer beim Ausräumen und Verpacken spüren möchte.

Und am neuen Ort? Da wirken sie seltsam abgelebt, verstaubt, als Relikte längst vergangener Zeiten. Sollen sie wirklich wieder in die neue Wohnung, sollen sie wieder den Kontext bilden, der uns so lang vertraut war? Ein zweiter, emotionaler Kraftakt. Hier hilft etwas Geduld, Abwarten auf das erneute Einpassen. Mit der Warnung: ab heute wird nichts mehr angehäuft! Ich habe alles, und das ist noch zu viel!

Aufräum- und Minimalismusstrategien gibt es sehr viele, da kann man in Büchern und Blogs nachlesen und sich Starthilfe und Trauerbegleitung holen. Ich finde zu dem Thema aber auch an ganz anderer Stelle Brauchbares. In Gyula Molnàrs Buch „Objekttheater“ kann man lesen: „Der Kontext verändert die Bedeutung des Objektes! … Wozu dient es? … Was bedeutet es? … Die Perspektive des Betrachters. Die ‚Einzigartigkeit‘ dessen, der schaut.“ (S. 38) Und weiter: „Die Objekte auf der Bühne müssen eine Rolle haben, die ihre Anwesenheit rechtfertigt. … Haben sie das nicht, sollte man sie besser gar nicht erst bemühen.“ (S. 110)

Dieses Büchlein aus dem Verlag Theater der Zeit – eines der wenigen Bücher, die ich in einer zwingenden Minimalbibliothek  aufbewahren würde –  empfehle ich allen, die nicht nur aufräumen und umgestalten möchten. Sondern die tiefer verstehen möchten, wie man dem Zwang der Dinge nicht einfach nur entkommen, sondern in der Anerkennung ihrer Rollen auf der Bühne unseres Lebens ein Mitwirken inszenieren kann. Dann könnte es sein, dass beim nächsten Mal nicht Umzugskartons gepackt werden.  Sondern Theaterkisten auf die Reise gehen, immer noch schwer, aber weniger schwermütig.