Die Umgebung offenbart mich

Als ich nach vielen Jahren wieder einmal in Texten von Maria Montessori nachlas, da fand ich „rein zufällig“ eine sehr interessante Stelle. Sie hat sich ja sehr viel damit beschäftigt, in welcher Umgegung ein Kind sich am besten entfalten und „seine tiefste Eigenart“ zeigen könne. Das, so die bekannte Pädagogin, sei eine offenbarende Umgebung, im Gegensatz zu einer prägenden Umgebung, die für Erwachsene tpyisch sei.

Wir schaffen uns unser Umfeld

Erst nach und nach sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse immer klarer geworden, dass die Umgebung nicht nur wie eine Gegeben-heit auf uns einwirkt, sondern ihrerseits sich durch unsere Gegen-wart verändert. Das hatte auch schon Maria Montessori erkannt, indem sie schrieb: „Wir schaffen uns auch immer eine Umgebung, die zu uns passt und die zu unserer Entfaltung beiträgt. Wir passen uns ihr an, bilden uns um.“ (Grundlagen meiner Pädagogik. Heidelberg 1985: Quelle & Meyer. S. 46). Es ist eine Wechselwirkung zwischen Umgebung und Mensch, die nicht einfach aufgetrennt werden kann. Bewußt oder unbewußt be-geben wir uns in eine bestimmte Um-gebung, die dann auf uns wirkt und wir auf sie.

Eine andere Nuance

Für das Kind solle nun die Umgebung offenbarend sein, nicht formend. Das ist sicherlich eine sehr schöne Kurzformel für Montessoris pädagogischen Ansatz. Sie schreibt näher dazu: „Das Kind offenbart sich in seiner Eigenart, in seinem Lebensrhythmus. Es ist eine psychologische Umgebung, die dem Lebensrhythmus des kindlichen Seelenlebens Raum gibt zu seiner Ausbildung“ (ebenda). Ich glaube, das ist auch für Erwachsene relevant. Es ist eine andere, oder sogar mehr als eine Begriffsnuance. Wir können unter diesem Blickwinkel unser Umfeld betrachten: Offenbart es uns oder prägt es uns? Haben wir die Intention, unsererseits zu prägen, oder Offenbarung – zum Beispiel von anderen Menschen – zu ermöglichen? Offenbarung zeigt Neues, Prägung kategorisiert. Diese Perspektive, ohne beide Seiten der Sache gegeneinander auszuspielen – kann ganz hilfreich sein bei Problemen, die wir im Leben haben: Eine Umfeldbetrachtung zum Beispiel am Arbeitsplatz in diese Richtung kann helfen, zu mehr Selbstwirksamkeit zu finden. Oder in der Familie Spannungen und Konflikte abzubauen. Umgebungen mit Offenbarungsmöglichkeit geben nämlich Freiheit, weil sie etwas ermöglichen, was menschlicher Ur-Sehnsucht entspricht: Sich zeigen zu können.